Seit Jahrmillionen musste sich der Mensch gegen die lebensfeindliche Umwelt auf diesem Planeten durchsetzen. Wir in den hochtechnisierten Ländern haben vergessen, wie lebensfeindlich unsere Umwelt eigentlich ist. Und der wäre schon längst aus dem Katalog der Spezies verschwunden, wäre er nicht in höchstem Maße überlebensfähig. Die Evolution hat den Menschen mit zwei genetischen Bauplänen ausgestattet, an denen er nicht herumschrauben kann: ganz oben steht die Erhaltung der Art, dann die Erhaltung des Individuums. Um uns zu physiologisch zu erhalten, müssen wir durchgehend atmen, wir müssen durchgehend trinken und essen.
Dabei hat uns die Evolution die einfache Maßregel mitgegeben: Wenn es etwas zu fressen gibt, dann friss, so viel und so lange du kannst. Denn Jahrmillionen lang wusste man nicht, wann und wo man auf die nächsten Beeren, Sträucher, Eichhörnchen, Mammuts treffen würde. Die nächste Dürre, die nächste Hungersnot kam so sicher, wie die Sonne jeden Tag wieder aufgehen würde. Daher hat uns die Evolution unsere Kalorienstoffwechsel mit einem einfachen Mechanismus ausgestattet: so viel wie möglich bunkern, so wenig wie möglich hergeben. Niemand war bisher in der Lage, diesen zutiefst sinnvollen Mechanismus auszuhebeln. Daher ist auch keine Pille der Welt in der Lage, den menschlichen Körper auf direktem Weg zum Abmagern zu bringen.
Was nun 23 Stunden 59 Minuten und 59 Sekunden in der Geschichte des homo sapiens galt, soll sich in einer Sekunde plötzlich umpolen? Was sich dagegen gravierend geändert hat, ist unser Nahrungsumfeld, jedenfalls bei uns in den Industrieländern. Die hochtechnisierte, globale Agrarindustrie stellt uns ein Übermaß an Kalorien zur Verfügung, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahr, Jahr für Jahr. Was sich nicht geändert hat, ist der menschliche Bauplan. Und der flüstert uns zu: "Wenn etwas zu essen da ist, iss es! Frag nicht lange, tu es einfach! Was du in den Supermärkten und Fast-Food-Hallen siehst, ist nur Schein. Du bist nur einen winzigen Schritt weit von der nächsten Hungerkatastrophe entfernt. Bereite dich vor. Iss!" Das tun wir auch. Und je weniger Esskultur eine Nation hat, desto hemmungsloser. Unser während Jahrmillionen evolutionär gereifter Bauplan schützt uns also extrem effektiv vor einem Unterangebot an Nahrung. Ein dauerhaftes Überangebot kommt in seinen Überlegungen nicht vor.
Warum nimmt ein Organismus Kalorien auf? Damit er Brennstoff im Tank für seine Nahrungsbeschaffung hat. Noch unsere Großelterngeneration leistete schier übermenschliche körperliche Arbeit. Vor 100 Jahren schuftete jeder dritte Erwerbstätige in Deutschland in der Landwirtschaft. Heute ist es jeder Fünfzigste. Vor dem Ersten Weltkrieg legte jeder Deutsche im Durchschnitt täglich um die 20 Kilometer zurück, heute sind es 800 Meter. Die Nahrungsbeschaffung ist mit dem wöchentlichen Einkauf oder mit der Pizzalieferung erledigt. Der eigentliche, evolutionäre Sinn der Kalorienaufnahme hat sich für uns erledigt. Trotzdem hat sich unser Essverhalten nicht verändert. Wir essen, als würden wir den ganzen Tag lang Zentnersäcke herumwuchten. Und noch dazu hat sich die Qualität unserer Nahrungszusammensetzung stark verschlechtert.
Wenn Sie Ihr Übergewicht loswerden wollen, stemmen Sie sich also gegen einen mächtiges Programm in Ihrem Organismus und Ihrer Psyche, das ein paar Dutzend Millionen Jahre mehr Erfahrung auf dem Buckel hat als Sie. Deshalb ist Abnehmen so schwierig, denn dieses Programm wird auch vor den allerfiesesten Tricks nicht zurückscheuen, um Sie von Ihrem Vorhaben abzubringen, selbst dann, wenn Sie sich schon längst in Sicherheit wähnen. Gesundes, dauerhaftes Abnehmen und Gewichthalten ist eine wahre Herkulesaufgabe, eine lebenslange Herausforderung, die umso schmerzvoller ist, je mehr Sie über ein gesundes Gewicht hinaus zugelegt haben.
Eigentlich müsste man sich wundern. Wir wissen so gut wie alles über die Ursachen von Übergewicht und wie man es wieder in den Griff kriegen kann, und trotzdem nimmt die Zahl an Fettleibigen in unserem Land von Jahr zu Jahr zu; bei den Männern seit 1985 um 44 %, bei den Frauen um 39 %. Sind wir machtlos?
Wahrscheinlich liegen die Ursachen tiefer, vom überbordenden Arbeitsstress, vom Zeitmangel, von den Präferenzen, die unsere Gesellschaft setzt, bis hin zu dem riesigen Markt[1], der an der Fettleibigkeit verdient: mit Unterstützung der Lebensmittelindustrie futtern wir uns tagsüber dick, abends versuchen wir uns mit der Fitnessindustrie die Kalorien wieder vom Leib zu strampeln. Zwischendurch konsumieren wir Diätratgeber, schlucken Schlankmacherpillen und versuchen die aktuell angesagte Wunder-Ananas-Himbeer-Kohl-Diät. Wenn die Pumpe dann trotzdem streikt, muss eben der Arzt her.
Unter dem Strich bleibt die Tatsache, dass wir umso dicker werden, je mehr Geld wir in das Teilsystem "Übergewicht" unserer Gesellschaft stecken. Welche Schlussfolgerung drängt sich auf? Was allgemein als Weg zum Abnehmen gilt, funktioniert nicht. Mein Rat: Nehmen Sie es selbst und mit Umsicht in die Hand.
Im Augenblick tobt ein Glaubenskampf in der Fachwelt, ob leichtes Übergewicht (BMI zwischen 25 und 27) nicht doch lebensverlängernd wirkt. Man ist der Meinung, dass die Fettverteilung dabei eine wichtige Rolle spielt: Bauchfett sei schlecht, Beinfett gut. Die Diskussion ist im Fluss. Und mit einigen kleinen Änderungen Ihrer Lebensführung werden Sie die paar überflüssigen Pfunde Fett, wenn Sie es wollen, loswerden.
Die WHO definiert Adipositas ab einem BMI von 30. Das bedeutet, wenn Sie mit 1,70 m Körpergröße die 90 Kilo überschreiten oder mit 1,80 m die 100 Kilo, und Sie kein Hantelsportler mit einem Körperfettanteil von 12 % sind. Ab dort beginnt der schwierige Bereich. Je weiter Sie nach oben gestiegen sind, desto schwieriger wird es, wieder zurückzukommen.
Vielleicht haben Sie von dem Australier Paul "PJ" James[2] gehört, der sich Jahr 2009 eine Reise der besonderen Art vornahm, die er "fat and back" nannte. Stark übergewichtige Klienten hatten PJ, das 80-Kilo-Model, das auch als Personal Trainer arbeitet, immer wieder gerügt, er könnte sich die Situation nicht vorstellen, in der sie steckten. Also beschloss PJ eine Jahresreise mit Beginn 1. Januar: in vier Monaten 50 % seines Körpersgewichts zulegen, dann zwei Monate halten und anschließend in sechs Monaten alles wieder abnehmen. Der Australier wollte seinen Schützlingen beweisen, dass es möglich ist, sich auch aus der Adipositas II (BMI zwischen 35 und 39) zu befreien.
Was JP als leichte Übung ansieht, verläuft alles andere als planmäßig. Am schnellsten funktioniert das Zunehmen. PJ frisst sich, ohne Beschränkung, mit Fettem, Frittiertem und Zuckerzeug in den ersten vier Wochen 15 Kilo an. Dann setzen erhebliche Probleme mit dem Blutdruck, den Blutzucker- und Cholesterinwerten ein. Ende April hat PJ sich auf 110 Kilo hochgefressen. Gegen den Rat seiner Ärzte entscheidet er sich dafür, die geplanten zehn Restkilo noch draufzupacken.
Schlimmer noch als die körperlichen sind die psychischen Folgen. PJ, knapp über 30, hat sich sein Leben lang gesund ernährt und Sport getrieben. Sein großer Fehler war zu glauben, dass sein physisches und geistiges Bewusstsein mit 120 Kilo das gleiche wie das des 80-Kilo-Manns sein würde. Weit gefehlt! Er wird süchtig nach Zucker und Fett. Seine Muskeln bilden sich zurück. Sein Körper wird unbeweglich und unansehnlich. Sein Selbstbewusstsein löst sich auf. Depressionen greifen nach ihm. Bohrende Selbstzweifel veranlassen ihn, nach Japan zu flüchten, ohne seiner Familie und Freunden Bescheid zu sagen. Am 1. Juli, dem ersten Abnehmtag, ist er ein körperliches und psychisches Wrack. Er glaubt nicht mehr daran, das Gewicht jemals wieder zu verlieren. Und die Realität gibt ihm Recht: Kein Plan funktioniert, das Fett scheint an ihm festzukleben …
Aus dem vermeintlichen Spaziergang und der Lehrstunde für Adipöse entwickelt sich der schlimmsten Kampf im Leben des PJ. Nach unsäglichen Anstrengungen steht er Ende Dezember wieder bei 80 Kilo, wohl auch, weil er sein Vorhaben von den Medien mitverfolgen ließ. Vielleicht war es letzten Endes der Druck der Öffentlichkeit, der ihn über alle Widerstände trug. Was wäre wohl passiert, wenn PJ das alles still und heimlich im seinem Kämmerchen angezettelt hätte? Jedenfalls quälen PJ auch heute noch, Jahre später, Gelüste nach Pommes und Schoko-Donuts.
Was lernen wir daraus? Wenn selbst ein Vollprofi alles aufbieten muss, was er an Ressourcen zur Verfügung hat, um dem Teufelskreis der Adipositas zu entfliehen, dann müssen Sie das als stark Übergewichtige(r) ebenfalls. Falls Sie es wirklich und zutiefst wünschen, dann gehen Sie die Sache von allen Seiten an. Suchen Sie einen Psychotherapeuten auf. Das kostet Sie nichts, die Kasse zahlt. Suchen Sie einen Personal Trainer, der im Optimalfall ausgebildeter Ernährungsfachmann ist. Gründen Sie eine Gruppe mit Leuten, die das Gleiche wie Sie vorhaben. Ziehen sie es nicht alleine durch. Holen Sie sich alle soziale Unterstützung, derer Sie habhaft werden können. Mieten Sie sich zusammen den Trainer, dann wird es erschwinglicher. Denken Sie an das Beispiel von PJ, um die Dimension Ihres Vorhabens richtig einzuschätzen. Denken Sie daran, dass Abnehmen und anschließend Gewichthalten Ihre lebenslange Aufgabe sein wird. Wenn Sie loslassen, wird es Ihnen ähnlich ergehen wie dem trockenen Alkoholiker nach dem ersten Schluck Bier oder dem Ex-Raucher nach der ersten Zigarette. Fragen Sie sich ernsthaft, ob sie die Kraft dazu in sich spüren, bevor Sie beginnen. Falls Ihre Antwort "Ja" lautet, dann starten Sie den zweiten Teil der Reise des JP.
[1] Die WHO schätzt, dass die direkten (medizinische Versorgung) und indirekten Kosten (Arbeitsausfall etc.) der Fettleibigkeit allein in Deutschland im Jahr 2020 die 25 Milliardenmarke überschreiten werden (http://www.adipositas-gesellschaft.de/index.php?id=42). Dazu kommt noch eine gigantische Schlankmacher- und Schlanksein-Industrie, die am Bauchfett der Deutschen kräftig verdient.
[2] Paul "PJ" James hat seine Erfahrungen als Buch (Take It Off, Keep It Off: How I Went from Fat to Fit – And You Can Too – Safely, Effectively, and Permanently, ISBN 978-0738215235, etwa 14 Euro; nur auf Englisch) und DVD vermarktet. Sie finden auch einiges dazu auf Youtube und im Web.